Die Rechtsform der SE als Alternative zur deutschen AG – Internationalisierung oder Umgehung?

Seit dem Jahr 2004 steht Unternehmen und ihren Eignern die Rechtsform der SE (Societas Europaea) als Alternative insbesondere zur Rechtsform der AG offen. Notwendig für die SE ist zwar ein europäischer Bezug. Diese Voraussetzung lässt sich aber recht leicht schaffen. Insofern verwundert es auch nicht, dass sich die SE großer Beliebtheit erfreut und ihre Anzahl stetig zunimmt. Ein Unternehmen, das zuvor bereits als AG bestand, kann zudem beim Wechsel in die SE faktisch das meiste (und namentlich das Zusammenspiel von Vorstand und Aufsichtsrat) beim Alten belassen, sofern es sich für die weit überwiegend gewählte Variante der dualistischen SE entscheidet.

Der Erfolg der SE lässt sich zu einem gewissen Teil sicher damit erklären, dass einerseits die vertrauten Strukturen der AG weitgehend beibehalten werden können, andererseits aber die Verfasstheit als SE mittlerweile sehr viel frischer, moderner und internationaler anmutet als die fast schon angestaubt, mitunter auch gestrig klingende AG. Aber geht es wirklich nur um Image und optisch vermittelte Weltläufigkeit? Bei etwas näherer Betrachtung gibt es nämlich durchaus ein paar handfeste Unterschiede zwischen SE und AG. Der Hervorstechendste betrifft die Mitbestimmung. Nach deutschem Recht gilt zwingend für Unternehmen ab 500 Mitarbeitern die drittelparitätische und ab 2.000 Mitarbeitern die paritätische Mitbestimmung, also die Besetzung des Aufsichtsrats mit einem entsprechenden Anteil von Arbeitnehmervertretern. Die europarechtlich geschaffene Rechtsform der SE kennt dagegen die deutsche Mitbestimmung nicht. Erfolgt der Wechsel in die SE vor Erreichen einer der genannten Schwellen, hat eine spätere Überschreitung dieser Schwellen mitbestimmungsrechtlich in aller Regel keine Auswirkungen mehr. Wer also als Unternehmen vor Erreichen der 500 Mitarbeiter SE wird, bleibt demzufolge gänzlich mitbestimmungsfrei, selbst wenn einige Jahre später viele tausend Mitarbeiter beschäftigt werden. Wechselt ein drittelparitätisch mitbestimmtes Unternehmen in die SE, bleibt es auch dann bei der Drittelparität, wenn später die 2.000er-Schwelle überschritten wird. Im jüngst geschlossenen Koalitionsvertrag der „Ampel“ findet sich freilich die Ankündigung, „missbräuchliche Umgehung“ des geltenden Mitbestimmungsrechts solle künftig verhindert werden.

So umstritten das deutsche Mitbestimmungsmodell bei seiner Einführung vor rund 50 Jahren auch war, wird man heute sagen können, dass die Mitbestimmung dem Erfolg der großen deutschen Unternehmen insgesamt offensichtlich nicht geschadet hat. Im Gegenteil klärt gerade die praktische Erfahrung, dass unternehmerische Maßnahmen zur Bewältigung von Krisensituationen besser und konsensualer umgesetzt werden können, weil die Arbeitnehmer über den Aufsichtsrat frühzeitig eingebunden sind und so die Notwendigkeit auch einschneidender Schritte überzeugender und nachvollziehbarer in die Belegschaft kommuniziert werden kann.

Dennoch wäre es realitätsfremd anzunehmen, dass die Attraktivität der SE nicht ganz besonders auch aus der Möglichkeit zur Vermeidung oder Reduzierung von Mitbestimmung herrührt. Das deutsche Mitbestimmungsmodell ist nun einmal ein Sonderweg, welches keinen Eingang in die europäische Rechtsform der SE gefunden hat, weil die meisten anderen EU-Mitglieder diesen Sonderweg nicht für nachahmenswert halten. Immerhin wird man aber den deutschen Unternehmen und ihren Eignern zugutehalten können, dass sie die SE nicht flächendeckend zur Flucht aus der Mitbestimmung genutzt haben.

Unter dem Gesichtspunkt, zunehmende Regulierung zu umgehen, ist die SE jüngst allerdings noch einmal interessanter geworden. Für die deutsche AG gelten nämlich durch das Zweite Führungspositionen-Gesetz (FüPoG II) in Kürze noch einmal deutlich verschärfte Vorgaben für die Frauenquote in Aufsichtsrat und Vorstand. Das gilt dann zwar entsprechend auch für eine bereits paritätisch mitbestimmte SE. Wird indessen durch den rechtzeitigen Wechsel zur SE die paritätische Mitbestimmung vermieden, wird damit künftig auch die strenge Frauenquote vermieden. Wer also geschlechterunabhängige Freiheit bei der Besetzung der Führungspositionen behalten will, hat nun einen zusätzlichen Anreiz, die Rechtsform der SE zu wählen. Es wird spannend sein, zu beobachten, ob in näherer Zukunft die Anzahl der SE noch spürbar weiter zunimmt. Allerdings werden sich die Unternehmen gewiss hüten, auch nur den leisesten Anschein zu erwecken, ein Wechsel in die SE sei aus der Vermeidung der Frauenquote motiviert. Das schließt freilich nicht aus, dass insgeheim die Vermeidung der Frauenquote dennoch ein – wenn auch aus Imagegründen nicht laut ausgesprochenes – Motiv sein dürfte. Das zeigt jedenfalls die unternehmerische Praxis recht deutlich.

Alles in allem offenbart sich gerade auch an der hier beschriebenen Thematik, dass der deutsche Gesetzgeber bei der immer weiter ausgreifenden Regulierung der AG und ganz besonders der börsennotierten AG Acht geben muss, nicht auf abschüssiges Gelände zu geraten und schließlich zu stürzen. Wenngleich ein beträchtlicher Teil dieser Regulierung auch dem EU-Recht geschuldet ist, steht jedenfalls fest, dass die Anzahl börsennotierter Gesellschaften seit Jahren massiv abnimmt und sich seit der Jahrtausendwende in etwa halbiert hat. Ganz offensichtlich finden auch hier Ausweichreaktionen und Umgehungsstrategien statt. Und es ist ja beispielsweise auch nicht mehr recht nachvollziehbar, warum für die Vorstandsvergütung bei der börsennotierten AG mittlerweile geradezu irrwitzig ausgeuferte Berichtspflichten und sonstige Vorgaben bestehen, wohingegen bei großen Unternehmen in Private Equity-Hand die Managervergütung nahezu unreguliert und völlig frei vereinbart werden kann. Damit wird weder die volkswirtschaftlich so wünschenswerte Börsennotierung attraktiver, noch wird es für den hochbegabten Spitzenmanager verlockender, eine Vorstandsposition bei einer börsennotierten AG anstatt einen Chefsessel in einem PE-Unternehmen anzustreben.

Im Kern geht es demnach gar nicht so sehr um die Attraktivität der SE, sondern eher um die zunehmende, durch immer weiter ausgreifende Regulierung abnehmende Attraktivität der (insbesondere: börsennotierten) AG. Wer also eine Flucht in die SE zur Vermeidung von Mitbestimmung und Frauenquote beklagt, sollte nicht den Schluss ziehen, dann auch die SE durch weitere Regulierung einzuschnüren. Sondern er sollte darüber nachdenken, der Rechtsform der AG wieder etwas mehr Luft zum Atmen zu verschaffen.

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